Thema Deutscher Herbst

Rote Armee Fraktion (RAF) / „Deutscher Herbst“ / Hanns-Martin Schleyer / Die Bleierne Zeit, ein Film von Margarethe von Trotta, 1981 / Friedrich Hölderlin, „Der Gang aufs Land“ (1800) / Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921 / Andreas Baader / Gudrun Ensslin / Christiane Ensslin (hrsg von), Zieh den Trennungstrich jeden Tag, Konkret Literatur Verlag, 2005 / Felix Ensslin / Jan-Carl Raspe / Stuttgart-Stammheim / „Drei Farben – ROT“ ein Film von Krzysztof Kieślowski, 1994 / DER MYTHOS IST EINE MASCHINE in: Heiner Müller, Hamletmaschine, Shakespeare Factory 2, Berlin: Wagenbach, 1989 / Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung. Herausgegeben von Klaus Biesenbach. Ausstellungskatalog KW Institute for Contemporary Art, Berlin: Steidl, 2005

Dieter Scholz
Rote Sterne und Textwolken. Brigitte Waldachs Raumzeichnungen zur RAF.

Verstört und fasziniert, gebannt und irritiert wie die Figuren in ihren Bildern stehen die Menschen vor den Werken von Brigitte Waldach. Bereits seit Jahren greifen ihre Zeichnungen über die Blätter hinaus und zielen auf den Raum. Durch das Einbeziehen von Klang und Sprache entsteht darüber hinaus auch eine zeitliche Struktur, so dass die mehrdimensionalen Arrangements wie Bühnen wirken, auf denen sich Realität und Imagination durchdringen. Indem sie sich durch Bild und Texte bewegen, werden die Betrachtenden selbst Teile einer Aufführung.

Die Farbe Rot fungiert als Signalgeber, sie lässt jedoch weniger Liebe oder Erotik assoziieren als – aufgrund der dunklen Karmintönung – Blut. In der Tat bestätigt Brigitte Waldach im Gespräch, bei der Farbwahl hätten Krimi- und Horrorfilme Pate gestanden. Seit 2002 verfolgt sie ihren Werkkomplex „sichtung rot“, der Zeichnungen, Siebdrucke, Folien, Fotos, Filme und Rauminstallationen umfasst.

Bei der Beschäftigung mit der Farbe Rot war es unausweichlich, irgendwann auch auf ihre revolutionäre Symbolik zu stoßen. Dem Naturphänomen der Sonnenauf- und –untergänge folgend, hatte sich die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert unter das Zeichen der roten Fahne gestellt, und über die russischen Bolschewiki und deren Rote Armee wanderte diese Bedeutungstradition in den Namen der westdeutschen Rote Armee Fraktion (RAF).

I

Als erste öffentliche Erklärung dieser in den Medien zunächst als Baader-Mahler-Meinhof-Gruppe bezeichneten militanten Vereinigung gilt der am 22. Mai 1970 veröffentlichte Aufruf „Die Rote Armee aufbauen“, im April 1971 erschien das 14-seitige Strategiepapier „Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla“. Als Signet diente ein fünfzackiger roter Stern, durchquert von einem nach rechts gerichteten Maschinengewehr.

Der Graphiker Holm von Czettritz hat erzählt, er sei von dem bis zu seiner Festnahme am 1. Juni 1972 im Untergrund lebenden Andreas Baader gebeten worden, dieses Logo zu überarbeiten. Doch als „Markenartikler“ habe er den Standpunkt vertreten, das unperfekte Schablonenartige entspreche der „Corporate Identity“ der RAF wesentlich besser.

Das Medienbewusstsein der Beteiligten war hoch entwickelt. Wie zeitgenössische Embleme wirken die Bilder des am 5. September 1977 entführten Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, Hanns-Martin Schleyer. Das RAF-Signet als Überschrift („inscriptio“), die Darstellung der Person als Bild („pictura“) und darunter der erläuternde Text („subscriptio“), in diesem Fall „Gefangener der RAF“ mit der jeweiligen Datumsangabe. Als Foto und Film wurde diese Inszenierung über das Fernsehen in die Wohnzimmer der Bundesrepublik Deutschland getragen.

Die Geschichte der RAF kulminierte im Oktober 1977, als der Versuch scheiterte, die gefangenen RAF-Mitglieder durch eine Flugzeugentführung in Mogadischu freizupressen, und als danach in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe die Protagonisten der RAF tot aufgefunden wurden und in Reaktion darauf der Arbeitgeberverbandspräsident ermordet wurde.

Wer immer in den 1970er Jahren seine politische Sozialisation erlebte, wurde durch diese Ereignisse geprägt. Zwei Filme brachten die Zeit auf den Begriff. „Deutschland im Herbst“, eine Gemeinschaftsproduktion von elf Regisseuren aus teils dokumentarischem, teils szenisch erzähltem Kurzfilmmaterial, wurde im Februar 1978 erstmals gezeigt. Der Streifen gab dem zurückliegenden Geschehen einen kalendarischen Namen, der Melancholie und Trauer ebenso assoziieren ließ wie das im Zyklus der Jahreszeiten natürliche Zugrundegehen. Eine analoge Erwartung verband sich mit der damals häufig gebrauchten Wendung vom „spätkapitalistischen“ Staat.

Wenig später brachte ein Spielfilm das zurückliegende Jahrzehnt auf einen Nenner: „Margarethe von Trottas Film ‚Die bleierne Zeit’ war sehr wichtig für mich“, sagt Brigitte Waldach. „Er hat mein politisches Denken stärker geprägt als meine Kindheitserinnerung an die Medienberichte im Herbst 1977.“ War die Künstlerin damals erst elf Jahre alt, so war sie bei Erscheinen des Kinostreifens 1981 bereits fünfzehn.

Die Regisseurin hatte ihren Titel einem unvollendeten Gedicht von Hölderlin entnommen und ihn auf die 1950er Jahre bezogen, um das starre und autoritäre Klima zu charakterisieren, in dem die späteren RAF-Mitglieder ihre Kindheit verbrachten. Doch schon rasch nach der Verleihung des Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig ging die Wendung als Bezeichnung für die 1970er Jahre in den Sprachgebrauch ein, wobei das Bleierne doppelsinnig sowohl Gelähmtheit und Stagnation der Gesellschaft bedeuten konnte als auch die Kugeln, welche von den Gewalttätern der RAF und auf sie abgefeuert wurden.

Der Film „Die bleierne Zeit“ zeichnete in Gestalt der beiden Protagonistinnen Juliane und Marianne den Lebensweg der Schwestern Christiane und Gudrun Ensslin nach. Aufgewachsen in einem kunstinteressierten protestantischen Pfarrhaus in Schwaben, engagierten sich beide im Rahmen der Studentenbewegung, gingen dann jedoch unterschiedliche Wege. Christiane stellte sich als Journalistin in den Dienst der Emanzipationsbewegung und zählte zu den Mitbegründerinnen der Zeitschrift „Emma“. Gudrun absolvierte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin, plante eine Dissertation über den Schriftsteller Hans Henny Jahnn und sah ihr Rollenvorbild in der Lyrikerin Else Lasker-Schüler, bevor sie sich 1967/68 zur militanten Aktivistin entwickelte, die wegen ihrer Beteilung an den Brandanschlägen auf zwei Frankfurter Kaufhäuser in Haft genommen wurde.

Christiane Ensslin war 1981 aktiv an Margarethe von Trottas Film beteiligt und gab 2005 gemeinsam mit ihrem Bruder Gottfried die Briefe heraus, welche Gudrun Ensslin 1972/73 aus dem Gefängnis an sie geschrieben hatte.

Gudrun und Christiane

Diese Edition wurde zu einer wichtigen Quelle für Brigitte Waldach. Das gilt nicht nur für den Text, sondern auch für die zentralen Bildmotive. Aus zwei in dem Buch abgedruckten Fotografien übernahm sie die im Profil aufgenommene, nach links ausschreitende Gudrun Ensslin und die frontal auf die Betrachtenden zulaufende Christiane Ensslin. In einer großformatigen dreiteiligen Zeichnung ist die Unterschiedlichkeit der beiden Schwestern durch eine maximale Distanz veranschaulicht, während das sie verbindende Element der Text ist. Ein Band der Kommunikation läuft von Gudrun zu Christiane, und diese Gerichtetheit ist nicht allein der westlichen Gewohnheit geschuldet, Schriftzeichen von links nach rechts auf das Blatt zu setzen, sondern auch der Tatsache, dass nur die Briefe Gudruns überliefert sind, die in die Haftanstalt gerichteten Schreiben von Christiane hingegen „verschollen sind und sich ihr Inhalt nur im Gudruns Antworten reflektiert“.

Im Bild ist es also Gudrun Ensslin, die spricht. An ihrer Figur hat Brigitte Waldach zwei Modifikationen vorgenommen. Eine Augenbinde könnte Blindheit signalisieren, bezieht sich aber wohl eher auf die zeitweilige Isolationshaft, während der die Verhaftete selbst beim Hofgang keine anderen Häftlinge zu Gesicht bekam. Und dass ihr Schreitmotiv vom Bildrand überschnitten wird, lässt sich als ein Verlassen des gesellschaftlichen Raumes deuten. Die in Anstaltskluft Dargestellte hat ihrer Schwester, die Alltagskleidung trägt, den Rücken gekehrt und strebt energisch nach links hinaus.

Die Sätze, die Gudrun Ensslin an ihre Schwester richtet, bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Direkt aus ihrem Kopf hervor geht „die Leidenschaft der Freiheit, der Durchblick, Du selbst, hier und jetzt, die Handlung“ – Formeln der Erfüllung in dem Versuch, die jüngere Schwester politisch zu überzeugen. Etwas tiefer im Bild bezieht sich die Frage „Wo kommt das her“ darauf, dass in der Frankfurter Rundschau Sätze aus den Briefen von Gudrun an Christiane zu lesen waren. Die Autorin kann sich vorstellen, dass die Informationen durch die Zensurstelle weitergegeben wurden, verdächtigt jedoch auch ihre Schwester eines naiven Verhaltens und warnt: „Weißt Du nicht, dass sie immer mindestens ungenau sind, und die Ungenauigkeit ist in der Tendenz immer Maßarbeit“. In der unteren Zeile schließlich eine Schilderung der Befindlichkeit: „Hase und Igel, Kälte und ich. Und ich bald ein Hund. Ich renne täglich etwa 4-5 Stunden in der Zelle (5 Schritte) auf und ab, bloß um nicht einzufrieren.“

Zwischen persönlicher Emotion, präziser Sachanalyse und politischer Agitation oszilliert der Textausstoß von Gudrun Ensslin, und in der zeichnerischen Darstellung überlagern sich die Schichten zu einer Zone der Unlesbarkeit. Im Mittelteil des Triptychons, einem reinen Schrift-Bild, ist unten mit besonderem Nachdruck hervorgehoben: „Deinen irre neugierigen Blick, als ich verschwand, habe ich wohl gesehen“, umspielt von der etwas späteren Paraphrasierung, „dass ich Deinen vor Neugier brennenden Blick sehr wohl bemerkt habe, als ich nach einem Besuch mit den Wärterinnen im langen Gang verschwand.“ Der Blick und das Verschwinden sind im Mittelteil nur in der Schrift präsent, motivisch ist das Verschwinden der Figur an den Anfang links gesetzt, während der Blick am Ende rechts aufscheint, wo Christiane Ensslin über die Ränder des Textes hinaus schauen kann. „Sieh’ mal“, heißt es darunter ausdrücklich, „Du sagst‚ ‚klein und aggressiv’ kommst Du Dir vor, wenn das Tor zu ist – weißt Du, dass das die vielleicht kürzeste Formel für das ist, was ‚Armut in der Bundesrepublik Deutschland’ auf weiß ich wievielen Seiten sagt?“ Im Original des Briefes lautet die Folgepassage: „Es ist das, was mit einem passiert, wenn man mit offenen Augen deklassiert, diffamiert, unmöglich behandelt wird, und dabei zusehen muss, wie gesagt ganz ohnmächtig.“ Indem Brigitte Waldach den Textschwall über den Mund der Figur legt, visualisiert sie die beschriebene Unmündigkeit. Das Wort „Durchblick“ steht zwar bei Gudrun, doch ihr sind die Augen verbunden. „Mit offenen Augen“ dagegen kann Christiane das Geschehen weiter verfolgen und Zeugnis ablegen.

Die dreiteilige Zeichnung „Gudrun und Christiane“ ist 2009 entstanden und führt Motive fort, die Brigitte Waldach bereits im Jahr zuvor für die Potsdamer Ausstellung „Drei Farben – ROT“ entwickelt hatte. Als letzter Teil einer von der Trikolore und den Maximen der Französischen Revolution abgeleiteten Trilogie, bildete der Begriff „Brüderlichkeit“ den Ausgangspunkt des kuratorischen Konzepts. Dies nahm die Künstlerin zum Anlass, nach Schwesterlichkeit im Rahmen revolutionärer Politik zu suchen.

Für die Ausstellung zeichnete Brigitte Waldach direkt auf Wände, Boden und Decke eines Raumes im Obergeschoß der Villa Kellermann in Potsdam. „Passagen aus den Briefen an Christiane dringen tiefrot in diesen hermetischen Ausstellungsraum. Über die unterschiedlichsten Rottöne sind die an die Wand geschriebenen Brieffragmente von der Literatur (hellrot) unterschieden, die sich Gudrun Ensslin durch ihre Schwester Christiane ins Gefängnis bringen ließ. Die eingeforderten Bücherlisten umfassten sowohl literarische als auch philosophische und politische Texte, darunter Friedrich Engels’ ‚Der Ursprung der Familie’. ‚Der Hungerkünstler’ von Franz Kafka’, Gedichte von Ezra Pound, Dramen von Jean Genet und ‚Tractatus logico-philosophicus’ von Ludwig Wittgenstein.“ Insgesamt zehn Lautsprecher waren in der Installation an die Wände montiert und mit roten Kabeln verbunden, so dass raumperspektivische Linien entstanden. Die Technik wurde integraler Bestandteil der Ästhetik. „Auf den ersten Blick wähnt man sich am Tatort eines Verbrechens“, hieß es in einer Rezension. „Doch was wie Blutspritzer in dem weißen Raum wirkt, erweist sich als Schrift: Zitate […] schieben sich über- und ineinander wie die Stimmen, die aus einem Lautsprecher wispern. Eine feingezeichnete Frau schwebt dazwischen, ein roter Stern.“

Plakativ suggeriert der Stern Eindeutigkeit. Aufgehoben wird diese jedoch durch die „Textwolken“, wie Brigitte Waldach ihre Schriftverdichtungen nennt. Die Vibration der Zeichen charakterisiert ihre Raumzeichnungen zur RAF. Dass sich dabei eine Verunsicherung der Wahrnehmung einstellt, ist durchaus gewollt. Die Künstlerin verweist darauf, die Störung des Gleichgewichtssinnes sei auch eine Begleiterscheinung der Isolationshaft. Neben der 2009 für die Art Brussels konzipierten dreidimensionalen Variante „Gudrun und Christiane II“ entstand das im selben Jahr auf dem art forum berlin gezeigte Triptychon „Deutscher Herbst“, in welchem sich die Figuren zwischen Baumstämmen bewegen und neben einem roten Stern in Versalien zu lesen steht: „DER MYTHOS IST EINE MASCHINE“.

Mit dem Begriff „Mythos“ ist eine Spur gelegt zu einer Diskussion, die im Sommer 2003 die deutschen Medien beherrschte. Das Berliner Ausstellungshaus Kunst-Werke plante ein Projekt unter dem Arbeitstitel „Mythos RAF“. Ein Vierteljahrhundert nach dem „Deutschen Herbst“ und fünf Jahre nach der schriftlich erklärten Selbstauflösung der RAF sollten „einer nachgewachsenen jüngeren Generation“, welche die „Gespenster von Baader, Meinhof und Ensslin“ nur noch „in verqueren Popkultur-Artefakten als Zitate“ kenne, der historische Zusammenhang und die Wege der Rezeption der RAF aufgezeigt werden. Die massive und reflexhafte Kritik an diesem Vorhaben machte ungewollt klar, wie sehr „das Phänomen RAF zunächst personalisiert, dann enthistorisiert und damit selbst wiederum mythisiert“ wurde. Einer der Kuratoren der Ausstellung, die schließlich unter dem Titel „Zur Vorstellung des Terrors“ 2005 gezeigt wurde, war Felix Ensslin. Brigitte Waldach ließ die Textwolken in ihrer Potsdamer Rauminstallation auslaufen mit dem Wunsch Gudrun Ensslins nach Fotografien von Andreas Baader und „außerdem vielleicht 2 von Felix. Felix ist kein RAF-Mitglied. Felix ist mein Sohn“.

Famous (Diptychon), 2009
Gouache, Pigmentstift auf Bütten
195 × 280 cm
Privatsammlung, Deutschland

Tief im versenktem Raum, 2010
Gouache, Pigmentstift auf Bütten
146 × 140 cm
Privatsammlung, Berlin

Deutscher Herbst I (Triptychon), 2009
Gouache, Pigmentstift auf Bütten
185 × 420 cm
Privatsammlung, Dänemark

Deutscher Herbst II (Diptychon), 2010
Gouache, Pigmentstift auf Bütten
185 × 420 cm
Sammlung Alison und Peter W. Klein, Deutschland

Gudrun und Christiane (Triptychon), 2009
Gouache, Pigmentstift auf Bütten
146 × 420 cm
Foundation Paris / Denlins

Muttertag – 9. Mai 1976 (Triptychon), 2014
Graphit, Gouache, Pigmentstift auf Bütten
185 × 420 cm
Sammlung Alison und Peter W. Klein, Deutschland

Die Welle – Moby Dick (Triptychon), 2011
Gouache, Pigmentstift auf Bütten
185 × 420 cm