Die Goldberg-Variationen
Unter dem nüchternen Titel Clavier Übung bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen wurde 1742 eines der bedeutendsten Werke der Musikgeschichte veröffentlicht: Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Dreißig Veränderungen über eine Aria. Der planvolle und symmetrische Bau des umfangreichen Variationszyklus ist faszinierend. Am Anfang und Ende steht dasselbe Thema, die langsam schreitende Aria. Eine Ouvertüre markiert die Mitte der Goldberg-Variationen, mit ihr wird der zweite Teil der Komposition eingeleitet. Außerdem teilen sich die dreißig Variationen in zehn Dreiergruppen auf, die jeweils ein Charakterstück, eine virtuose Variation und einen Kanon enthalten.
Referenzmotive / Referenzfiguren
Die strenge Gliederung der Komposition in Dreier-Gruppen hat mich zur der formalen Entscheidung geführt, die Motive jeweils auf Triptychen zu beziehen und drei Referenzfiguren zu berücksichtigen: Bach als Komponist, Glenn Gould als kongenialer Pianist und Thomas Bernhard als Schriftsteller, der 1983 den Roman Der Untergeher über die Goldberg-Variationen geschrieben hat. Der 1931 geborene Thomas Bernhard zeigt eine hohe Musikalität in seinem literarischen Werk. Seine eigene Interpretation der Goldberg-Variationen offenbart sich in Der Untergeher. Erzählt wird der berufliche und private Werdegang dreier angehender Konzertpianisten – einer von ihnen ist Glenn Gould – und deren lebenslange Auseinandersetzung mit dem Anspruch höchster Perfektion. Gleichzeitig wird die Entstehungsgeschichte der Goldberg-Variationen im Roman nachvollzogen. Form und Zahlenordnungen der Goldberg-Variationen werden im Untergeher aufgegriffen. So kommt das Wort Aria zweimal, das Wort Goldberg-Variationen 30-mal vor – für mich Anlass, über ausgewählte Zitate aus Bernhards Roman, die Kompositionsprinzipien von Literatur und Musik zu verbinden. Der kongeniale, 1944 in Toronto geborene Pianist Glenn Gould hat sein Leben unter anderem dem Werk Bachs und konkret den Goldberg-Variationen gewidmet. Legendär war und ist sein erstes Konzert der Goldberg-Variationen 1959 in Salzburg, das in meinem Zyklus innerhalb eines Triptychons als Stadtsilhouette auftaucht.
Motive
Jedes Blatt zeigt einen Sternenhimmel, der sorgfältig recherchiert, den jeweiligen Sternenstand zeigt, der die zwei Hauptmotive jedes Blattes (Notation und jeweiliges Motiv wie Stadt, Kirche, Landschaft, Figuren, Abstraktion) kosmisch einbettet. Ich beginne den Bach-Zyklus (V1-3) mit dem Motiv einer Stadtansicht von Eisenach, der Geburtsstadt Bachs, angeregt durch einen Kupferstich von 1680, und ende mit dem Motiv eines kosmischen Wurmloches, der Aufhebung unserer irdischen Vorstellung von Raum und Zeit. Die Arie als Ursprung zeigt sich in der klaren Abstraktion des Notenbilds und in ihrer Vollendung absolut in der Verdichtung aller Variationen – ein musikalisches weißes Rauschen.
BW
Präsentation in den Reinbeckhallen
Berlin, November 2019
Brigitte Waldach: Goldbergvariationen von Dr. Stefan Lüddemann
Ich schaue in schwarze Weite. Sie dehnt sich so gewaltig, als wollte sie mich verschlucken. In der Dunkelheit schweben weiße Lichtpunkte. Ein Sternenbild, ja, aber nicht irgendeines. Es ist die Konstellation der Gestirne aus dem Jahr 1741. Johann Sebastian Bach ersinnt die Goldbergvariationen. Der Blick in den Sternenhimmel als Funke der Inspiration: Das ist ein mächtiges Symbol, entweder zu gewaltig oder zu abgegriffen, um Gegenstand von Kunst werden zu können. Oder doch nicht? Mir wird vor der ausladenden Himmelszeichnung ein bisschen schwindelig. Die Künstlerin aber hat keine Angst. Brigitte Waldach lässt mit dem Weiß in Schwarz gezeichneten Sternenhimmel eine dreifache Sternstunde beginnen. Die gilt Bachs stellarem Klavierzyklus, Thomas Bernhards radikalem Pianistenroman „Der Untergeher“ und ihrem eigenen gezeichneten Zyklus „Goldbergvariationen“. 32 und zwei Blätter im Format von jeweils 195 mal 142 Zentimetern: Die Zahl korrespondiert mit Bachs Zyklus, diesem Zirkelkreis makelloser Perfektion. Eine Parallele. Eine Ambition.
Die Berliner Künstlerin hat ihren Zyklus „Goldbergvariationen“ jetzt in den Reinbeckhallen in Berlin-Schöneweide präsentiert….
Die Goldberg-Variationen
10 Triptychen, je 195 × 420 cm, Graphit, Gouache auf Bütten
2 Arien, je 195 × 140 cm, Graphit auf Bütten