Muttertag – 9. Mai 1976 (Triptychon), 2014
Graphit, Gouache, Pigmentstift auf Bütten
185 × 420 cm
Sammlung Alison und Peter W. Klein, Deutschland
Muttertag (9. Mai 1976)
Das Triptychon Muttertag (9. Mai 1976) thematisiert die letzten Stunden vor dem Tod der deutschen Terroristin Ulrike Meinhof. Der Sternenstand in diesem Bild entspricht der realen Sternenkonstellation über Stuttgart in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1976. In dieser Nacht starb Ulrike Meinhof in ihrer Gefängniszelle in Stuttgart-Stammheim, wie den Polizeiprotokollen zu entnehmen ist.
Dieser Tag, der zweite Sonntag im Monat Mai, war „Muttertag“.
Das Bild, abstrakt und konkret zugleich, könnte dem letzten Ausblick Meinhofs aus ihrer Zelle in den Nachthimmel entsprechen.
Was geht einem Menschen in den letzten Stunden seines Lebens durch den Kopf?
In der Zelle von Ulrike Meinhof wurden zahlreiche Briefe und Bücher gefunden; aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag, als man ihre Leiche fand, beispielsweise die „Philosophische Grammatik“ Ludwig Wittgensteins.
Zitiert wird in diesem Triptychon aus vielen Quellen; so lesen wir kurze Zitate über Ulrike Meinhof inklusive einer Selbstäußerung – in weißer Schreibschrift. Den lichtstärksten Sternen im Bildfeld aber sind rote Begriffe aus Ulrike Meinhofs Leben zugeordnet, welche stichpunktartig ihr Leben noch einmal aufleuchten lassen: frühe Kindheits- und Kriegserinnerungen, ihre protestantische Prägung, die Erfahrungen als studentische Aktivistin und Journalistin, als Mutter, letzte Äußerungen als private Person oder als offizielle Stimme der RAF bis zur Selbstaufgabe in der Isolationshaft.
Das Sternensymbol ist als universelles Zeichen auch zum Symbol der RAF geworden und verbindet hier die unterschiedlichen formalen und in haltlichen Ebenen einer Radikalisierung.
Ulrike Meinhof hat sich ein Jahr vor dem kollektiven Selbstmord der anderen RAF-Gründungsmitglieder das Leben genommen. Sie war die Isolierteste in der Isolationshaft, denn der Rest der Gruppe distanzierte sich von ihr in Stammheim zunehmend.
Das Triptychon lässt sich auch als Rezeption dieses Themas in der Kunst und Kunstgeschichte verstehen. Gerhard Richter verwendete das gleiche Polizeiphoto der Leiche Ulrike Meinhofs, das über die Veröffentlichung im „Stern“ Magazin bereits eine breite Öffentlichkeit bekam, für seinen RAF Zyklus, wie es hier als Zeichnung im Zentrum von „Muttertag“ erscheint. Weiterhin taucht ein Zitat des Malers auf.
Ein Triptychon ist in der westeuropäischen Kultur eine dreiteilige Bildfolge, bei der im Mittelteil die zentrale Szene mit den Hauptfiguren gezeigt wird, während die beiden Seitenflügel zeitlich davor oder danach liegende Ereignisse vor Augen führen. Dies ist auch hier, verschlüsselt, der Fall. „Muttertag (9. Mai 1976)“ zeigt darüber hinaus eine neue Form des Historienbildes, dass sich gleichzeitig sehen und lesen lässt, zeigt und beschreibt wie ein individuelles Leben zur Zeitgeschichte wird.
BW